In der Schweiz wird der Freiheitsentzug in erster Linie mit seiner präventiven Wirkung gerechtfertigt: Er soll abschrecken, bessern und sichern. Hält diese Legitimierung einer ethischen Untersuchung stand?
Dieser Text umfasst in gekürzter und vereinfachter Form die wichtigsten Erkenntnisse meiner Master-Abschlussarbeit des Studiengangs Advanced Studies in Applied Ethics der Universität Zürich. Die vollständige Abschlussarbeit finden Sie hier zum Download.
Abstract
Das Strafrecht in der Schweiz dient «in erster Linie nicht der Vergeltung, sondern der Verbrechensverhütung» (BGE 134 IV 1). In meiner Arbeit untersuche ich, ob der Freiheitsentzug tatsächlich durch seine präventive Wirkung hinsichtlich Abschreckung, Besserung und Sicherung gerechtfertigt werden kann. Dabei zeigt sich, dass der Freiheitsentzug nur dann ethisch legitim ist, wenn er aufgrund der Gefährlichkeit einer Person für die öffentliche Sicherheit ausgesprochen wird. Dies jedoch nur dann, wenn der Vollzug mit einem möglichst hohen Grad an Autonomie geschieht. Wichtige positive Freiheitsrechte, insbesondere auch die Aufrechterhaltung von Beziehungen, müssen gewahrt bleiben, um ein Gleichgewicht zwischen gesellschaftlicher Sicherheit und individueller Autonomie zu schaffen. Ebenso fordere ich einen gesellschaftlichen Diskurs über Gefährlichkeit sowie vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Ungleichheiten eine soziale Transformation, die kriminalitätsfördernde Rahmenbedingungen reduziert.
Einleitung
«Es ist die verabscheuungswürdige Lösung, um die man nicht herumkommt», sagte der französische Philosoph Michel Foucault (1976, S. 296) darüber, Menschen in Gefängnisse zu sperren. Was sonst sollen wir mit Vergewaltiger:innen, Pädophilen oder notorischen Gewalttäter:innen tun, als diese Person wegzusperren, um sie zu bestrafen und uns selbst vor ihnen zu schützen? Diese scheinbare Alternativlosigkeit ist aber aus ethischer Sicht kein hinreichender Grund, um diese schwerwiegenden Eingriffe in die Grundrechte von Menschen zu legitimieren. Vielmehr stellt der Mangel an Alternativen auch eine Gefahr dar: dass unsere Gesellschaft diesen Umstand als Vorwand nutzt, um eine ethisch falsche Praxis zu rechtfertigen.
In meiner Abschlussarbeit des Master-Studiengangs «Advanced Studies in Applied Ethics» der Universität Zürich habe ich die Legitimität des Freiheitsentzugs untersucht. Die Fragestellung ist auch motiviert durch meine Neugier, über eine künftige Welt nachzudenken, die anders funktioniert. Und dabei «moralisch blinde Flecken» aufzudecken – Handlungen, die wir nicht ausreichend hinterfragen und sich eines Tages als moralische Fehler erweisen.
Wie lässt sich eine Strafe rechtfertigen?
Ganz allgemein lässt sich zuerst fragen, wie sich eine Strafe generell rechtfertigen oder legitimieren lässt. Seit Jahrhunderten wird darüber unter dem Begriff der Strafzweckdiskussion diskutiert. Dabei lassen sich zwei primäre Argumentationslinien unterscheiden. Retributive Straftheorien legitimieren die staatliche Strafe mit der Tat selbst. Wer eine strafbare Handlung begeht, muss zwecks gerechter Vergeltung bestraft werden (Coninx, 2016). Würde auf eine Straftat keine Strafe folgen, wäre dies ungerecht. Dagegen legitimiert die sogenannt präventive Strafzwecktheorie eine Strafe aufgrund des Nutzens, den die Strafe erbringt (Dübgen, 2016). Der Nutzen besteht dabei insbesondere in der «Verhinderung von künftigen Verbrechen» (Coninx, 2016, S. 162). Die Strafe ist gerecht, weil dadurch weiteres Übel verhindert wird (Hoerster, 2012).
Das Zweckdenken im Schweizer Strafrecht
In der Schweiz ist laut der Rechtswissenschaftlerin Anna Coninx (2016, S. 158) «eine spezialpräventiv orientierte Vereinigungstheorie vorherrschend». Bestraft werde, was «notwendig erscheint, um den Täter von weiteren Taten abzuhalten» (Coninx, 2016, S. 178). Das Bundesgericht hält in BGE 134 IV 1 fest, dass das Strafrecht «in erster Linie nicht der Vergeltung, sondern der Verbrechensverhütung» diene. Sogar ausschliesslich aufgrund ihres Nutzens werden die strafrechtlichen Massnahmen (Verwahrung, therapeutische Massnahmen) legitimiert. Sie werden gemäss Strafgesetzbuch dann ausgesprochen, wenn «eine Strafe allein nicht geeignet ist, der Gefahr weiterer Straftaten des Täters zu begegnen» oder «ein Behandlungsbedürfnis des Täters besteht oder die öffentliche Sicherheit dies erfordert» (StGB Art. 56 Abs. 1).
Die Sanktionsform Freiheitsentzug wird in der Schweiz somit vorrangig aufgrund ihres Nutzens, respektive ihrer präventiven Wirkung gerechtfertigt. Die ethische Legitimität dieser Argumentation habe ich im Rahmen meiner Arbeit untersucht und diskutiert. Ist es aus ethischer Sicht legitim, wenn der Freiheitsentzug aufgrund seiner abschreckenden Wirkung auf die Täter:innen gerechtfertigt wird? Und ist es moralisch richtig, die Täter:innen zu verwahren, weil es die öffentliche Sicherheit erfordert?
Abschreckung, Besserung und Sicherung
Die weiter oben geschilderte präventive Strafzwecktheorie unterscheidet nun in erster Linie drei Nutzenüberlegungen, welche stark durch den italienischen Rechtsphilosophen Cesare Beccaria und den englischen Philosophen Jeremy Bentham geprägt wurden.
Abschreckung
Durch die Androhung einer Strafe sollen die Gesellschaftsmitglieder von der Begehung von Verbrechen abgehalten werden. Es wird ihnen ein «furchteinflössendes Übel angedroht» (Spycher, 2013, S. 151). Ebenso sollen dadurch Verbrecher:innen abgeschreckt werden, weitere Taten zu begehen.
Besserung
Durch die Strafe sollen Täter:innen so beeinflusst werden, dass sie keine Straftaten mehr begehen und dadurch ein rechtskonformes Leben führen (Spycher, 2013). So hält auch das Strafgesetzbuch fest: «Der Strafvollzug hat das soziale Verhalten des Gefangenen zu fördern, insbesondere die Fähigkeit, straffrei zu leben» (Art. 56 Abs. 1 StGB).
Sicherung
Durch die Einschränkung des Handlungsspielraums im Rahmen einer Strafe sollen Täter:innen an der Begehung weiterer Straftaten gehindert werden (Coninx, 2016). Sie werden also «zu Verbrechen unfähig gemacht» (Hoerster, 2012, S. 54). Der präventive Strafzweck der Sicherung dient somit der öffentlichen Sicherheit, indem die Bevölkerung vor gefährlichen Personen geschützt wird.
Kritik an der präventiven Strafzwecktheorie
Nun können verschiedene Argumente gegen die drei genannten Strafzwecke vorgebracht werden.
Zweckrationalität
Der reine Nutzen reicht aus ethischer Sicht nicht aus, um Strafen zu legitimieren. So lassen sich beispielsweise die Verletzung von Grund- oder Menschenrechten nicht dadurch rechtfertigen, dass daraus ein Nutzen entstanden ist. Würde die Folter die grösste präventive Wirkung erzielen, schiene diese Sanktionsform deshalb trotzdem nicht legitim.
Masslosigkeit
Eine konsequente Orientierung am präventiven Nutzen birgt die Gefahr, dass Täter:innen übermässig bestraft werden (Coninx, 2016). Denn die Strafen müssten ja so streng sein, dass es gar keine Verbrechen mehr gibt. Ebenso lässt sich vorbringen, dass es sich um eine moralisch ungerechte Instrumentalisierung einer Person handelt, wenn sie bestraft wird, um andere von Straftaten abzuhalten (Spycher, 2013). Oder wie es John Stuart Mill (1976/2006, S. 167) sagte: «ihn ohne seine Einwilligung dem Nutzen anderer zu opfern.»
Täter:in statt Tat
Im Rahmen einer präventiven Strafzwecktheorie orientiert sich die Strafe an der Gefährlichkeit einer Person, nicht an der Art und Schwere der Tat (Hoerster, 2012). Das bedeutet, dass zwei Personen für die gleiche Tat unterschiedlich hart bestraft werden könnten (Hoerster, 2012; Coninx, 2016). Eine Person würde beispielsweise aufgrund der Gefährlichkeit mit einer therapeutischen Massnahme belegt, die andere Person aufgrund fehlender Gefährlichkeit nur mit einer Geldstrafe. Dies scheint intuitiv ungerecht.
Wirksamkeit
Die drei Strafzwecke sind empirisch angreifbar. Wenn nachgewiesen werden kann, dass Strafen keine abschreckende, sichernde oder bessernde Wirkung haben, verliert die Legitimation ihre Grundlage. Tatsächlich mangelt es an verlässlichen Daten, welche den präventiven Nutzen von Strafen statistisch beweisen können (Coninx, 2016; Spycher, 2013).
Praktikabilität
Schliesslich stellt sich auch die Frage, ob das Nutzenkalkül praktisch anwendbar ist. Es wird davon ausgegangen, dass eine Person bei einer Straftat den Nutzen der Handlung mit dem möglichen Übel einer Strafe abwägt. Dabei scheinen aber die Motive für unser soziales Verhalten vielfältiger zu sein und nicht darauf reduzierbar, dass einzig angedrohte Strafen von Straftaten abhalten.
Argumente gegen den Freiheitsentzug
Die zuvor dargestellten Argumente richten sich gegen die Legitimierung von staatlichen Strafen durch Nutzenüberlegungen. Nun kann auch der Freiheitsentzug als konkrete Sanktionsform spezifisch kritisiert werden. Nur weil staatliches Strafen aufgrund der präventiven Wirkung richtig sein kann, legitimiert dies noch nicht jede Art von Strafe. Beispielsweise könnte die Todesstrafe trotz eines nachgewiesenen Nutzens als moralisch falsch beurteilt werden. Was also spricht konkret gegen den Freiheitsentzug als ethisch legitime Sanktion, wenn er zu präventiven Zwecken erfolgt?
Argumente gegen den Freiheitsentzug findet man insbesondere in der Literatur des Abolitionismus, der sich mit der Abschaffung von Gefängnissen auseinandersetzt. In meiner Arbeit habe ich die kritischen Positionen von verschiedenen Autorinnen und Autoren zu vier Argumenten zusammengefasst.
Das Machtargument
Michel Foucault (1976) zufolge dient der Freiheitsentzug der Durchsetzung von Machtinteressen und der Disziplinierung normabweichender Individuen. Gefängnisse seien Apparaturen, um Individuen gefügig und nützlich zu machen. Das Motiv des Freiheitsentzugs bestünde dann gar nicht darin, die Gesellschaft zu schützen, sondern die Interessen der Machthabenden durchzusetzen und Bürger:innen zu kontrollieren und zu zwingen, ihr Verhalten in Einklang mit ihren Interessen zu bringen.
Das Diskriminierungsargument
Angela Y. Davis (2003) argumentiert, dass Gefängnisse rassistische Institutionen sind, die überproportional ethnische Minderheiten und sozial benachteiligte Gruppen treffen. Diese Gruppen werden aufgrund ihrer Herkunft und sozialen Bedingungen kriminalisiert. Denn bestimmte Bevölkerungsgruppen haben aufgrund kriminalitätsfördernder gesellschaftlicher Rahmenbedingungen eine erhöhte Wahrscheinlichkeit straffällig zu werden. Sie sind somit nur teilweise für ihre Tat verantwortlich. Der Freiheitsentzug ist in einem solchen Fall diskriminierend, weil nicht allein der freie Wille einer Person zu der Tat geführt hat, sondern ihre Herkunft, ihre soziale Stellung, ihre finanzielle Situation oder andere äussere Umstände, welche nicht ihrer Kontrolle unterliegen.
Das Würdeargument
Klaus Roggenthin (2018) zufolge verletzt das Gefängnis die Menschenwürde, «indem es ihm einen hochgradig fremdbestimmten Alltag aufzwingt, in allen persönlichen Anliegen zu einem Bittsteller degradiert» (Roggenthin, 2018, S. 20). Roggenthins Kritik richtet sich jedoch gegen die Ausgestaltung des Vollzugs eines Freiheitsentzugs. Die von ihm beschriebene würdeverletzende Fremdbestimmung muss nicht zwingend mit einem Freiheitsentzug einhergehen, respektive sind Vollzugsformen denkbar, in denen mehr Selbstbestimmung gewährt wird.
Das Wirksamkeitsargument
Abschreckung: Gemäss Klaus Roggenthin (2018) werden insbesondere schwere Verbrechen aufgrund mangelnder Impulskontrolle begangen, was eine rationale Abwägung der Folgen einer Handlung ausschliesse. Der angedrohte Freiheitsentzug kann vor diesem Hintergrund keine abschreckende Wirkung zeigen. Laut Thomas Mathiesen (1989) ist es zudem nicht die Strafschwere, sondern die Strafwahrscheinlichkeit, von welcher eine präventive Wirkung ausgeht. Daraus lässt sich das Argument formulieren, dass die zweifelsfrei harte Strafe Freiheitsentzug nicht notwendig ist, sondern weniger harte Strafen in Kombination mit einer hohen Strafwahrscheinlichkeit eine ebenso generalpräventive, abschreckende Wirkung hätten.
Besserung: Gemäss Mathiesen (1989, S. 59) sei das Gefängnis nie dazu in der Lage gewesen, die Menschen «in einen funktionstüchtigen Zustand zu versetzen», was durch zahlreiche empirische Untersuchungen belegt sei. Nils Christie (1980/81) spricht einem Freiheitsentzug ebenfalls die Fähigkeit ab, zu bessern. Durch einen Aufenthalt im Gefängnis würden äussere Umstände, welche ursächlich für die Verbrechen waren, nicht verändert.
Sicherung: Intuitiv ist es logisch, zweckmässig sowie auch moralisch richtig, eine Person durch die Einschränkung ihrer Bewegungs- und Handlungsfreiheit daran zu hindern, erneut ein schweres Verbrechen zu begehen. Doch auch dieser Strafzweck erfährt Kritik. Denn konsequenterweise muss die Freiheit so lange entzogen werden, bis die inhaftierte Person keine Gefahr mehr darstellt. Dieses Kalkül bewirkt jedoch, dass einer Person lebenslang die Freiheit entzogen werden muss, wenn sich an ihrer Gefährlichkeit nichts ändert. Und weil der Freiheitsentzug keine bessernde Wirkung habe, führe der Strafzweck der Sicherung automatisch zu einer lebenslangen Inhaftierung. So hätten sich nur die Todesstrafe, die lebenslange Haft und Kastration als wirksam erwiesen, um Rückfälle zu verhindern, schreibt Nils Christie (1980/81).
Ethische Forderungen
Im Rahmen meiner Arbeit habe ich die verschiedenen präsentierten Argumente aus ethischer Perspektive analysiert und daraus vier ethische Forderungen abgeleitet, die erfüllt sein müssen, damit der Freiheitsentzug als präventive Massnahme ethisch legitimiert werden kann.
Reform des Freiheitsentzugs als abschreckende Strafe
Der Freiheitsentzug scheint tatsächlich weder geeignet noch verhältnismässig, um eine abschreckende Wirkung zu erzielen. Denn schwere Verbrechen wie Mord oder Vergewaltigung, welche mit Freiheitsentzug bestraft werden, werden nicht vor dem Hintergrund eines rationalen Nutzenkalküls begangen. Es scheint, dass andere Umstände ursächlich für die Begehung sind (beispielsweise mangelnde Impulskontrolle oder das Leben in kriminellen Milieus). Diese bleiben in der Regel auch nach dem Verbüssen einer Strafe unverändert und dürften eine grössere Wirkung auf das Verhalten der Täter:innen haben als die mit einem Freiheitsentzug bezweckte Einschüchterung. Wenn ein Freiheitsentzug ausschlich aufgrund des Strafzweck der Abschreckung legitim sein soll, muss der Vollzug reformiert werden. Es braucht eine neue Sanktionsform, welche das zugefügte Übel reduziert und eine bessere Wirksamkeit aufweist. Wichtige positive Freiheitsrechte, insbesondere die Autonomie und die Aufrechterhaltung von Beziehungen, müssen gewahrt bleiben. Eine graduellere Form des Freiheitsentzugs, durch die zwar einerseits ein abschreckendes Leid auferlegt wird, andererseits aber den Betroffenen eine selbstbestimmte Lebensführung möglich bleibt, könnte den obengenannten Bedingungen gerecht werden.
Sicherung mit Autonomie und Würde
Das Gefängnis wurde eingangs dieser Arbeit als alternativlos bezeichnet. Dies scheint es tatsächlich zu sein, wenn es um den Schutz der Bevölkerung vor Menschen geht, die eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit darstellen. Die Sicherung muss jedoch unter Bedingungen erfolgen, die den Betroffenen einen möglichst hohen Grad an Autonomie gewähren und die Menschenwürde achten. Darunter fällt die Voraussetzung, dass immer eine Entlassungsperspektive gewährt wird. Zudem muss den inhaftierten Personen grösstmögliche Autonomie gewährt werden. Die Bewegungs- und Handlungsfreiten dürfen nur dann eingeschränkt werden, wenn es für den Strafzweck unerlässlich ist. In den Worten von Helen Brown Coverdale (2020, S. 423): «Their lives and narratives must be allowed to move on.»
Gesellschaftlicher Diskurs über Gefährlichkeit
Die Legitimationsbasis des Freiheitsentzugs stellt die Gefährlichkeit einer Person dar. Jedoch lassen sich nur ungenaue Prognosen darüber treffen, mit welcher Wahrscheinlichkeit eine Person in Zukunft wieder eine schwere Straftat begehen wird. Die Orientierung an der Gefährlichkeit führt auch dazu, dass zwei Personen für das gleiche Verbrechen unterschiedlich hart bestraft werden könnten. Aufgrund dieser schwerwiegenden Einwände ist ein gesellschaftlicher Diskurs über den Begriff «Gefährlichkeit» unerlässlich, um die Legitimationsbasis des Freiheitsentzugs ethisch zu rechtfertigen. Einige Fragen, welche diskutiert werden müssen, sind: Wie definieren wir als Gesellschaft die Gefährlichkeit? Welche Personen erachten wir aufgrund welcher begangenen Taten oder moralischen Abweichungen als eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit? Wo setzen wir die Grenzen der Zulässigkeit von leidzufügenden Eingriffen in die Grundreche von Menschen? Worin besteht eine Besserung und wie kann sie bewiesen werden? Inwieweit sind wir bereit, Sicherheitsrisiken in Kauf zu nehmen, um unsere individuellen Freiheiten und Unterschiede zu schützen?
Soziale Transformation für die Gerechtigkeit
Das weiter oben vorgestellte Diskriminierungsargument zeigte auf, dass die Gründe für Straffälligkeit nicht ausschliesslich in individuellen Dispositionen liegen, sondern offenbar auch in sozialen Gegebenheiten. Ich sprach dabei von «kriminalitätsfördernden gesellschaftlichen Rahmenbedingungen». Diesen müssen wir als Gesellschaft entgegenwirken, wenn wir der ethischen Forderung, Leid möglichst zu verhindern, Folge leisten wollen. Wenn wir bereit sind, individuelle Rechte zugunsten unserer gesellschaftlichen Interessen zu opfern, müssen wir bestrebt sein, Faktoren zu korrigieren, welche Individuen zu Verbrechen verleiten, aber unserer gesellschaftlichen Kontrolle unterliegen. Nur wenn wir dies tun, wahren wir die Legitimationsbasis für freiheitsentziehende Strafen. Insbesondere wenn die Verbrechensverhütung als Maxime gilt, wäre es widersprüchlich, nicht Massnahmen zu ergreifen, welche zu diesem Zweck beitragen. Andernfalls stellen wir als Gesellschaft eine Gefahr für uns selbst dar. Deshalb gilt die ethische Forderung, dass unsere Gesellschaft denjenigen Bedingungen entgegenwirkt, welche Kriminalität fördern. Nur dann ist es auch legitim, wenn individuelle Grundrechte aus kollektiven Nutzenüberlegungen hinsichtlich öffentlicher Sicherheit entzogen werden. Die grundlegenden Strukturen unserer Gesellschaft müssen dazu so beschaffen sein, dass sie Kriminalität bestmöglich verhindern, respektive nicht gar ursächlich für Verbrechen sind. Dieser Ansatz wird unter dem Begriff der transformativen Gerechtigkeit verstanden (Dübgen, 2016).
Literaturverzeichnis
Christie, N. (1980/81). Grenzen des Leids. Bielefeld: AJZ Druck und Verlag.
Coninx, A. (2016). Rechtsphilosophische Grundlagen des Strafens und aktuelle Entwicklungen im Massnahmenrecht. Recht, 4/2016, 157-179.
Coverdale, H. B. (2021). Caring and the Prison in Philosophy, Policy and Practice: Under Lock and Key. Journal of Applied Philosophy, 38/3. doi: 10.1111/japp.12415.
Davis, A. Y. (2003). Are Prisons Obsolete? New York: Seven Stories Press.
Dübgen, F. (2016). Theorien der Strafe zur Einführung. Hamburg: Junius Verlag.
Foucault, M. (1976). Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main: Suhrkamp Verlag.
Hoerster, N. (2012). Muss Strafe sein? Positionen der Philosophie. München: Verlag C.H.Beck oHG.
Mathiesen, T. (1989). Gefängnislogik. Über alte und neue Rechtfertigungsversuche. Bielefeld: AJZ Druck & Verlag.
Mill, J. S. (1976/2006). Der Utilitarismus. Ditzingen: Reclams Universal-Bibliothek.
Roggenthin, K. (2018). Das Gefängnis ist unverzichtbar! Wirklich? BAG-S Informationsdienst Straffälligenhilfe, 26. Jg., Heft 1/2018. Abgerufen am 15. Oktober 2022 von: https://www.bag-s.de/fileadmin/user_upload/Gefaengnis_unverzichtbar_Roggenthin.pdf
Spycher, D. (2013). Die Legitimität der retributiven Kriminalstrafe. Von der Notwendigkeit des Vergeltungsgedankens in einem präventionsorientierten Strafrecht. Taunusstein: Verlag Dr. H. H. Driesen.