Legitimität ist Legitimationsglaube: Ist eine politische Autorität dann und nur dann legitim, wenn sie von einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger faktisch anerkannt wird?
Publiziert als Essay im Rahmen des Studiengangs Advanced Studies in Applied Ethics der Universität Zürich, Modul Ethik des Politischen
Einleitung
Jan Zielonka (2019), Professor für Politik an der Universität Ca’ Foscari in Venedig, schrieb in der deutschen Wochenzeitung «Die Zeit»: «Demokratische Legitimität ist ein wertvoller politischer Schatz, und Europa versucht ziemlich verzweifelt, sie zu bekommen.» Auch im Zusammenhang mit der Präsidentschaftswahl 2020 in den Vereinigten Staaten ist von Legitimität die Rede (Baumann, 2021): «Mehr als die Hälfte der Republikaner halten die Wahl für manipuliert und zweifeln damit die Legitimität des neuen Präsidenten an.» Sowohl die EU als auch der US-Präsident können als politische Autoritäten (nachfolgend: PA) verstanden werden, welche über Menschen regieren, indem sie verbindliche Regeln definieren, diese durchsetzen respektive Gehorsam verlangen (vgl. Skript Cheneval, 2020, S. 20). Sie verfügen über die Herrschaft und üben Macht über die Bürgerinnen und Bürger (Menschen mit rechtlicher Zugehörigkeit zum territorialen Gebiet der PA) aus (Glaser, 2012, S. 15). Diese Macht kann, wie es aufgrund der zwei Beispiele oben scheint, auf ihre Berechtigung hin überprüft werden. Unter dem Begriff der Legitimität beschäftigt sich unter anderem die Ethik des Politischen mit dieser Fragestellung.
Eine Ethik-zentrierte Diskussion über die Legitimität einer PA beginnt mit der allgemeinen Begründung, warum eine PA für das Zusammenleben der Menschen notwendig ist (Glaser, 2012, S. 15). Nach Klärung dieser Frage (welcher nicht das Augenmerk dieses Essays gilt, aber auf welche ich im Kapitel 4 noch eingehen werde), bedarf es einer spezifischen Begründung, warum eine PA (z.B. die EU oder der US-Präsident) über das Recht verfügt, über die Bürgerinnen und Bürger (nachfolgend: Bürger) zu regieren. Unter Legitimität ist somit die «berechtigte Ausübung der politischen Autorität über bestimmte Personen auf einem bestimmten Territorium» zu verstehen (vgl. Skript Cheneval, 2020, S. 55).
Im Folgenden werde ich die vorliegende These erörtern (Kapitel 2). Danach lege ich anhand anderer Legitimitätsauffassungen die Kritik an der These dar, wobei ich insbesondere die Arbeiten von David Beetham (2013) sowie Fritz Scharpf (1999) einbeziehe, um bedeutende und zugleich unterschiedliche Sichtweisen einzunehmen (Kapitel 3). Schliesslich diskutiere ich die vorgebrachten Argumente auf ihre Stichhaltigkeit (Kapitel 4). Dabei zeigt sich, dass die verbreitete Kritik, wonach die vorliegende These ethisch-normativen Ansprüchen an Legitimität nicht ausreichend gerecht wird und insbesondere die Leistungen der PA vernachlässigt, nur bedingt berechtigt ist, teilweise gar verworfen werden sollte. Ich gelange zum Schluss (Kapitel 5), dass die faktische Anerkennung durch die Mehrheit der Bürger das Fundament der Legitimität einer PA sein sollte, aber die These durch eine normative Anforderung verändert werden muss.
Die Position Max Webers
Die vorliegende These basiert im Wesentlichen auf der Position des deutschen Soziologen Max Weber (1922/1972). Er nahm den Standpunkt ein, dass sich die Legitimität einer PA durch ihre Akzeptanz in Form von Anerkennung ausdrückt. Wenn die Mehrheit der Bürger glaubt, dass die PA berechtigt ist zu herrschen, hat sie den Legitimitätsanspruch erfüllt. Gemäss Weber ergibt sich Legitimität ausschliesslich aus «feststellbarer Anerkennung» und ist somit empirischer respektive subjektiver Natur (vgl. Skript Cheneval, 2020, S. 56). Dieser Ansatz der Legitimitätstheorie beschränkt sich darauf, «die Folge- oder Gehorsamsbereitschaft der Bürger zu erklären» (Ross & Wielgohs, 2014, S. 100). Demgegenüber kann Legitimität normativ respektive objektiv verstanden werden, wobei die Anerkennungswürdigkeit einer PA aufgrund allgemein begründbarer Kriterien bestimmt wird (vgl. Skript Cheneval, 2020, S. 57).
Weber stellt jedoch fest, dass sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart in unterschiedlichen Gesellschaften, Ländern und Kulturen unterschiedliche Anforderungen an eine PA gestellt wurden, und somit bestimmte Legitimitätskriterien an einem Ort akzeptiert und an einem anderen abgelehnt würden (Beetham, 2013, S. 6). Objektive Legitimität ist nach dieser Auffassung nicht formulierbar.
Intuitiv wirkt Webers Legitimitätsauffassung einleuchtend. Tatsächlich scheint es in einer demokratisch organisierten Gesellschaft unmöglich, dass eine PA, welche nicht durch die Mehrheit der Bürger anerkannt ist, als legitim gelten kann. So wird die Legitimität des US-Präsidenten Joe Biden damit begründet, dass er die Mehrheit der Wahlmännerstimmen für sich gewinnen konnte. Dagegen wird der EU ein Legitimitätsdefizit vorgeworfen, weil die Bürger vieler Mitgliedsstaaten keine Möglichkeit haben, um ihre faktische Anerkennung kundzutun oder zu verweigern.
Zwei normative Legitimitätsauffassungen
David Beetham
Vertreter des normativen Ansatzes haben Webers Legitimitätsauffassung kritisiert. Thomas Mirbach (1990, S.41) bewertet die Zustimmung als «notwendige, nicht aber schon hinreichende Voraussetzung von Legitimität». David Beetham (2013) sieht in der Anerkennung nur eine Dimension von Legitimität abgebildet. Gemäss seiner Auffassung umfasst Legitimität drei normative Kriterien, welche eine PA zu erfüllen hat (Maier, 2012, S. 10): Legalität, Werte und Glauben sowie Zustimmung. Demnach ist eine PA dann legitim, wenn sie ihre Herrschaft aufgrund geltender Regeln und Gesetze ausübt, diese mit den verbreiteten Werten und dem Glauben innerhalb einer Bevölkerung in Einklang stehen, und die PA die Zustimmung der Bürger erhält.
Damit greift er zwei wichtige Einwände gegen die vorliegende These auf. Erstens: Die faktische Anerkennung einer PA durch die Mehrheit der Bürger kann erzwungen (z.B. in Form von Drohungen) oder manipuliert (z.B. in Form von Wahlbetrug) werden. Mit der Legalitätsdimension will Beetham sicherstellen, dass die PA ihre Herrschaft in gesetzeskonformer Weise erlangt (Maier, 2012, S. 10). Zweitens: Die Zustimmung durch die Mehrheit der Bürger sagt nichts darüber aus, warum die PA der Anerkennung würdig ist. Deshalb führt Beetham als Kriterium ein, dass zwischen der PA und den Bürgern eine gemeinsame Wertebasis existieren muss, auf denen die Regeln und Gesetze basieren, dank welcher eine PA ihre Position erwirbt (Beetham, 2013, S. 69). Gemäss Glaser (2012, S. 18) ist diese Dimension zu verstehen als «Konsens aller Herrschaftsunterworfenen über Souveränität und den Zweck bzw. das Ziel von Herrschaftsausübung».
Die Erweiterung von Max Webers Position, welche Beetham vornimmt, scheint aufgrund der genannten Einwände notwendig. Jedoch sind beide Dimensionen (Legalität sowie Werte und Glauben) ebenso mit Mängeln behaftet. Eine PA kann über weitreichende gesetzgebende Kompetenzen verfügen und auf diesem Weg Gesetze einführen, welche ihrer eigenen Machterhaltung dienen. Damit würde sie zwar meiner Meinung nach den Anspruch erfüllen, dass die Herrschaft gesetzeskonform erworben wurde, aber auf eine Weise, die dem Sinn von Beethams Legalitätsdimension zuwiderläuft. Des Weiteren vermag eine PA auch die in einer Gesellschaft vorhandenen Werte zu ihren Gunsten zu beeinflussen (z.B. mit politischer Propaganda), so dass nicht mehr feststellbar ist, welche Werte ohne die PA in einer Gesellschaft gelten würden (Maier, 2012, S. 11).
Fritz Scharpf
Fritz Scharpf (1999) nennt die sogenannte Outputlegitimität, verstanden als «Problemlösefähigkeit» (Glaser, 2012, S. 34), als eine von zwei Dimensionen, welche die Legitimität einer PA begründen. Die Outputlegitimität kommt dabei nur vermittelt zum Ausdruck (Glaser, 2012, S. 35), indem die Bürger ihre Interessen im politischen Prozess einbringen können, womit die zweite Dimension nach Scharpf die Inputlegitimität darstellt, verstanden als Partizipation der Bevölkerung (Glaser, 2012, S. 33). Je höher das Mass der Partizipation, desto grösser die Inputlegitimität. Eine PA ist demnach legitim, wenn durch die Partizipation der Bürger im politischen Prozess gewährleistet ist, dass politische Entscheidungen den Willen des Volkes widerspiegeln und wenn sie die Interessen der Bürger vertritt und realisiert.
Scharpf führt mit der Outputlegitimität eine Art Leistungskriterium ein, nämlich den Anspruch, dass die PA im Interesse der Bürger Probleme löst. Dazu sei «ein Bestand gemeinsamer Interessen» notwendig (Glaser, 2012, S. 34), während für die Inputlegitimität «eine ausgeprägte kollektive Identität eine Voraussetzung» sei. An dieser Stelle können Vorbehalte vorgebracht werden. Meiner Meinung nach lässt sich fragen: Wie und durch wen werden die kollektive Identität sowie die gemeinsamen Interessen definiert? Was passiert, wenn diese nicht existieren? Ausschlaggebend scheint die Partizipation der Bürger zu sein, durch welche die Interessen definiert werden, welcher die PA zu folgen hat. Aus Max Webers Sichtweise liesse sich behaupten, dass dies darauf hinausläuft, dass die Mehrheit der Bürger darüber bestimmt und somit die PA ihre Legitimität wiederum aus der Anerkennung durch die Mehrheit der Bürger bezieht.
Das teleologische Problem
Sowohl bei David Beetham (Dimension Zustimmung) als auch Fritz Scharpf (Inputlegitimität) ist eine Form der Zustimmung durch die Bürger ein Kriterium für Legitimität. Es scheint, dass keine Auffassung die faktische Anerkennung durch die Mehrheit der Bürger als eine Voraussetzung für Legitimität verneinen kann. Ich würde sie deshalb als das Fundament der Legitimität einer PA bezeichnen.
Was Beetham und Scharpf meiner Ansicht nach versuchen, ist Kriterien für Legitimität aufzustellen, welche sich darauf beziehen, wie und warum die Anerkennung durch die Mehrheit zu Stande kam. Beethams Kriterium der Legalität möchte ich aus dem folgenden Grund verwerfen: Es könnte sein, dass eine legitimierte PA Gesetze brechen muss, um einer herrschenden, aber illegitimen PA die Macht zu entziehen. Scharpf wiederum entzieht meiner Meinung nach seinem auf Inputlegitimität beruhenden Ansatz selbst die Gültigkeit, indem er «eine ausgeprägte kollektive Identität» (Glaser, 2012, S. 34) als Voraussetzung nennt. Legitimität muss auch möglich sein, wenn diese nicht vorhanden ist.
Kommen wir nun zu den Gründen, welche zur faktischen Anerkennung geführt haben. Die Frage ist also, ob geteilte Werte und Glauben (Beetham) oder die Erfüllung von Interessen der Bürger (Scharpf) für Legitimität notwendig sind. Interessen, aber auch Werte, lassen sich meiner Meinung nach als Zwecke verstehen: Worauf zielen die politischen Handlungen einer PA? Man denke zum Beispiel an die Förderung von Freiheit oder von Wohlstand. Somit würde es sich um ein teleologisches Legitimitätskriterium handeln. Wenn wir nun weiterhin davon ausgehen, dass an erster Stelle die Anerkennung durch die Mehrheit der Bürger der PA ihre Legitimität verleiht, dann besteht die Gefahr, dass die PA nur den Werten und Interessen der Mehrheit nachkommt, um so ihre Machtposition zu legitimieren und zu sichern. Nun könnte man dies für richtig halten. Aber wenn eine PA ihre Legitimität auch aus Zwecken bezieht, welche ich als Bürger aber nicht mit ihr teile, dann wäre die PA nur für die Mehrheit, nicht aber für die Minderheit legitim. Dabei soll sie eben gerade für alle Bürger anerkennungswürdig sein, weil sie durch die Mehrheit anerkannt wurde. Beethams als auch Scharpfs Auffassungen scheinen fehlerhaft, weil sie dazu führen, dass eine PA die Werte und Interessen der Mehrheit vertreten muss und daraus ihre Legitimität bezieht.
Trotzdem stimme ich mit ihnen sowie Thomas Mirbach (1990, S.41) überein, dass die Zustimmung der Mehrheit nicht hinreichend für Legitimität ist. Die Auffassung von Max Weber erlaubt es, dass eine PA legitim ist, obwohl sie nicht den Werten und Interessen ihrer Bürger dient. Damit komme ich zurück auf die erste Frage, welche im Rahmen einer Diskussion über die Legitimität einer PA gestellt wird (Glaser, 2012, S. 15): Warum ist eine PA für das Zusammenleben der Menschen notwendig? Daraus ergibt sich meines Erachtens ihr Zweck. Wenn wir ein teleologisches Kriterium einführen, dann muss es mit der Daseinsberechtigung einer PA in Einklang stehen. Gehen wir nach Thomas Hobbes (vgl. Skript Muders, 2020, S. 16-23) davon aus, dass sich die Bürger einer PA unterwerfen, um Eigeninteressen und Kooperationsvorteile zu realisieren. Wenn die PA nun einzig den Interessen der Mehrheit dient, hat die Minderheit keinen Grund mehr, sich ihr zu unterwerfen. Somit ist es die Pflicht einer PA sicherzustellen, dass alle Bürger Kooperationsvorteile erzielen können, um auch für die Minderheit legitim zu sein. Deshalb darf sie die Interessen der Mehrheit nicht bevorzugt behandeln, sondern muss bei der Ausübung ihrer Macht die Interessen aller Bürger in gleicher Weise berücksichtigen. Nur dann kann eine von der Mehrheit der Bürger faktisch anerkannte PA legitim sein und nur dann kann die Anerkennung als hinreichend bezeichnet werden.
Egalitäre Legitimitätsauffassung
Ohne faktische Anerkennung durch die Mehrheit der Bürger kann eine PA nicht legitim sein. Die Mehrheitslegitimation erhält jedoch nur dann ihre Berechtigung, wenn die PA ihrem Zweck gerecht wird, der darin besteht, dass alle Bürger durch die Zugehörigkeit zur PA Kooperationsvorteile erzielen. Deshalb gilt es, den empirischen Ansatz durch ein normatives Kriterium zu erweitern: Die PA muss die Interessen aller Bürger in gleicher Weise berücksichtigen. Somit schlage ich folgende (wie ich es nennen möchte) «egalitäre Legitimitätsauffassung» vor, welche wie folgt lauten könnte: Eine politische Autorität ist legitim, wenn sie von einer Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger faktisch anerkannt wird, aber nur dann, wenn sie bei der Ausübung ihrer Macht die Interessen aller Bürger gleichermassen berücksichtigt.
Literaturverzeichnis
Baumann, M. (20. Januar 2021). Das Ende Trumps ist auch das Ende eines amerikanischen Mythos. Neue Zürcher Zeitung. Abgerufen von https://www.nzz.ch/meinung/usa-trumps-ende-ist-auch-das-ende-eines-amerikanischen-mythos-ld.1597421.
Beetham, D. (2013). The Legitimation of Power. Basingstoke: Palgrave Macmillan.
Cheneval, F. (2020). Vorlesung Politische Autorität und Legitimität. Universität Zürich, Advanced Studies in Applied Ethics, 18./19.9.2020.
Glaser, K. (2012). Über legitime Herrschaft. Wiesbaden: Springer Fachmedien Wiesbaden.
Maier, M. A. (2012). Politische Legitimität in autoritären Regimen. Eine Untersuchung des Legitimitätsverlustes des Mubarak-Regimes in Ägypten zwischen 2000 und 2010. Münchener Beiträge zur Politikwissenschaft. München: Geschwister-Scholl-Institut für Politikwissenschaft.
Mirbach, T. (1990). Überholte Legitimität? Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft.
Muders, S. (2020). Vorlesung Grundlagen der Ethik, Kontraktualismus. Universität Zürich, Advanced Studies in Applied Ethics, 08.03.2020.
Ross, C. & Wielgohs, J. (2014). Das Paradox: Putins populäre Autokratie. Osteuropa, Vol. 64, No. 8, 99-112.
Scharpf, F. (1999). Regieren in Europa. Effektiv und demokratisch? Frankfurt: Campus Verlag.
Weber, M. (1922/1972). Wirtschaft und Gesellschaft. Tübingen: Mohr Siebeck.
Zielonka, J. (17. Juli 2019). Mehr Transparenz, mehr direkte Demokratie. Die Zeit. Abgerufen von https://www.zeit.de/politik/ausland/2019-07/eu-kommissionspraesidentin-ursula-von-der-leyen-europa-demokratie.