Müssen Ökosysteme in ihrer Integrität geschützt werden, weil sie für sich genommen wertvoll sind?
Publiziert als Essay im Rahmen des Studiengangs Advanced Studies in Applied Ethics der Universität Zürich, Modul Umweltethik
Einleitung
Bei der oben genannten These handelt es sich um eine Fragestellung aus der Umweltethik. Dieser Bereich der Angewandten Ethik befasst sich mit dem «menschlichen Umgang mit der nicht-menschlichen Natur» (Wallimann-Helmer, 2021, S. 12). Damit einher gehen Umweltschutz- und Nachhaltigkeitsfragen, unter anderem solche bezüglich des Klimawandels oder der Ökosysteme der Erde.
Bevor wir genauer auf die These eingehen können, müssen wir zuerst wissen, wovon die Rede ist. Der Begriff «Ökosystem» wurde erstmals in den 1930er-Jahren durch den Botaniker A.R. Clapham verwendet (Toepfer, 2011). Darauffolgend war insbesondere A.G. Tansley prägend für die Bestimmung des Ökosystems als «Einheit von interagierenden Organismen mit Elementen ihrer Umwelt» (Toepfer, 2011, S. 715). In den Naturwissenschaften gelangen heute unterschiedliche Definitionen zur Anwendung. Einigkeit besteht jedoch darin, dass wechselseitige Beziehungen und Abhängigkeiten zwischen Lebewesen und ihrer Umwelt im Vordergrund des Ökosystem-Verständnisses stehen (Assmann et al., 2014).
Auch für den Begriff der «Integrität» existieren je nach Anwendungsgebiet verschiedene Auffassungen. Im Kontext dieses Essays werde ich Integrität (lat. integritas) in einem biologischen Sinne als Unversehrtheit (Paululat & Purschke, 2011, S. 244) verstehen. Auf den Begriff «wertvoll» werde ich später zurückkommen.
Die These umfasst zwei Bestandteile: Im ersten Teilsatz wird eine deontische Aussage formuliert, nämlich dass wir Menschen eine moralische Pflicht haben, die Unversehrtheit von Ökosystemen zu schützen. Der zweite Teilsatz nennt die normative Begründung, warum dem so ist, nämlich weil Ökosysteme für sich genommen wertvoll sind. Damit ist meines Erachtens gemeint, dass ihr Wert objektiv, «unabhängig von einem wertenden Subjekt» (Deplazes Zemp, 2021, S. 12) und somit intrinsisch vorliegt.
Um die Gültigkeit der These zu untersuchen, müssen wir ihre beiden Bestandteile analysieren. Zu diesem Zweck werde ich nach einer metaethischen Vorüberlegung die Argumente zusammentragen, welche für diese Schutzpflicht gegenüber Ökosystemen sprechen, und solche, welche dagegensprechen. Dazu werde ich die Sichtweisen der vier axiologischen Grundpositionen der Umweltethik (Deplazes Zemp, 2021, S. 16) einnehmen. Meine Abwägung der Argumente führt zu dem Schluss, dass Ökosysteme nicht als für sich genommen wertvoll betrachtet werden können. Ihr Schutz ist dennoch geboten, weil sie für das Wohlergehen der in ihr lebenden Organismen existenziell wichtig sind. Im Sinne einer Versöhnung werde ich zum Schluss die These von der Wertfrage befreien.
Metaethische Vorüberlegung
Die These beruht auf der ontologischen Annahme, dass Ökosysteme existieren und als Entitäten überhaupt für ein moralisches Urteil in Frage kommen (Halbig, 2021, S. 6). Nun ist es so, dass ein Ökosystem ein – wie ich es nennen würde – «menschliches Konzept» ist. Der Botaniker A.R. Clapham (siehe Einleitung) erschuf es, indem er mit diesem Wort seine Beobachtungen der Interaktionen und Wechselwirkungen zwischen Organismen und ihrer Umwelt zusammenfasste. Somit ist ein Ökosystem etwas Abstraktes; etwas, was wir nicht anfassen können. Dies heisst nun aber nicht, dass Ökosysteme nicht für eine moralische Erwägung zählen dürfen. Denn auch abstrakte Entitäten können wir metaontologisch als seiend annehmen, weil wir uns «intentional auf etwas ‘Gegebenes’ beziehen» (Kanzian, 2020, S. 389). Mir scheint es im Rahmen der hier angewandten Ethik und zwecks handlungsleitender Überlegungen sinnvoll davon auszugehen, dass auch ein abstrakter Gegenstand moralisch relevant sein könnte.
Die These besagt aber nicht nur, dass Ökosysteme für ein moralisches Urteil in Frage kommen. Sie behauptet im zweiten Teilsatz, dass Ökosysteme über einen intrinsischen Wert verfügen und deshalb schutzbedürftig sind (Wallimann-Helmer, 2021a, S. 16). Damit einher geht, ihnen den moralischen Status als «moral patient» zu verleihen. Wir bezeichnen Entitäten dann als «moral patients», wenn diese unabhängig von Klugheitsgeboten, die unser Wohlergehen betreffen, moralisch zählen (Muders, 2021, S. 22-23). Gängiger Weise sind alle Menschen «moral patients», wobei sie aufgrund ihres Personenstatus über besondere Rechte verfügen (Muders, 2021, S. 20) und ebenso als «moral agents» für ihre Handlungen verantwortlich gemacht werden können (Muders, 2021, S. 27). Die Frage, die nun im Raum steht, ist also, ob wir Menschen als «moral agents» die Unversehrtheit von Ökosystemen schützen müssen, weil sie «moral patients» sind. Nun gibt es verschiedene Ansichten darüber, was moralisch zählt. Ich werde dies nun anhand der axiologischen Grundpositionen innerhalb der Umweltethik erläutern und jeweils darlegen, was dies für unsere These bedeutet.
Argumentation entlang der vier Grundpositionen der Umweltethik
Anthropozentrismus
Der Anthropozentrismus rückt den Menschen ins Zentrum der ethischen Analyse (Wallimann-Helmer, 2021a, S. 26). In seiner stärksten Form zählt einzig der Mensch moralisch etwas, weil nur er dazu in der Lage ist, Werte zu erkennen, zu reflektieren und sein Verhalten danach zu richten. Dies heisst aber nicht automatisch, dass die Menschen die Unversehrtheit von Ökosystemen nicht schützen müssen. Der Natur kann durch den Menschen ein Wert zugeschrieben werden, der eine Schutzpflicht begründet. Dieser Wert kann unter anderem instrumenteller Natur sein, weil intakte Ökosysteme eine Ressource darstellen und für das Wohlergehen der Menschen unerlässlich sind (Wallimann-Helmer, 2021a, S. 16). Entsprechend liesse sich auch aus einer anthropozentrischen Perspektive eine Schutzpflicht rechtfertigen. Jedoch nicht, wie es die These fordert, weil Ökosysteme für sich genommen wertvoll sind, sondern weil sie für den Menschen wertvoll sind. Darin liegt denn auch der Kritikpunkt an der anthropozentrischen Position; dass diese auf einem Weltbild basiert, das zu stark den Menschen ins Zentrum rückt, und die Natur einzig dazu dient, für die Zwecke des Menschen instrumentalisiert zu werden.
Patho- und Biozentrismus
Der sogenannte Pathozentrismus erweitert nun das «moralisch Zählende» auf alle leidens- oder empfindungsfähigen Wesen (Grimm, 2021, S. 29), unabhängig vom Wert, den sie für die Menschen besitzen. Im Zentrum für die Beurteilung des Status als «moral patient» steht somit die Empfindungs-/Leidensfähigkeit. Daraus leitet sich ab, dass wir mit Entitäten, welche über diese Eigenschaft verfügen, nicht nach unserem Belieben umgehen dürfen.
Der Biozentrismus dehnt diese Position weiter aus, indem er die Eigenschaft des Lebens für die Begründung des moralischen Status verwendet. Das heisst: Alle lebenden Organismen zählen als «moral patients» und somit beispielsweise auch nicht leidensfähige Tiere, Pflanzen oder Mikroorganismen. Kenneth E. Goodpaster begründet dies damit, dass alle Lebewesen Interessen haben, während Paul Taylor allen Lebewesen zuschreibt, dass sie nach einem Wohl streben, und man ihnen entsprechend schaden oder nutzen kann (Deplazes Zemp, 2021, S.23/26). Hier kann kritisch gefragt werden, ob eine solche Position praktizierbar ist, insbesondere im Hinblick auf Konflikte zwischen den Interessen respektive des Wohlergehens von Menschen und nicht-menschlichen Lebewesen.
Mit Blick auf unsere These helfen uns Patho- und Biozentrismus jedoch nicht weiter, denn wie ich eingangs erläuterte sind Ökosysteme abstrakte Entitäten. Ein Ökosystem scheint kein Leid empfinden zu können, wenn seine Unversehrtheit verletzt wird. Leid empfinden können nur die lebenden Organismen, die Teil des Ökosystems sind. Zu untersuchen wäre auch, ob Ökosysteme leben respektive Interessen oder ein Wohl verfolgen. Ich möchte behaupten, dass es wiederum so ist, dass es die lebenden Organismen sind, welche Interessen haben und ein Wohl anstreben, für welche das Ökosystem instrumentell wichtig zu sein scheint. Für unsere These heisst dies: Aus beiden Positionen heraus kann eine Schutzpflicht abgeleitet werden. Aber wiederum nicht, weil Ökosysteme für sich genommen wertvoll sind, sondern um das Leiden der Organismen im Ökosystem zu verhindern, respektive deren Interessen und Wohlergehen nicht zu gefährden.
Ökozentrismus
Vertreter dieser umweltethischen Grundposition erweitern die in Frage kommenden «moral patients» weiter auf nicht-lebende Organismen, spezifisch auf natürliche Ganzheiten wie Arten, Ökosysteme, Biosphären bis hin zum Planeten Erde (Deplazes Zemp, 2021a, S. 6). Diese Erweiterung muss jedoch begründet werden. Dies lässt sich erneut bewerkstelligen, indem man den genannten Entitäten eigene Interessen zuschreibt, wie dies zum Beispiel Lawrence E. Johnson tut (Deplazes Zemp, 2021a, S. 8). Dies scheint aus zwei Gründen problematisch: Einerseits wird es schwierig sein, auf naturwissenschaftliche Weise Interessen von abstrakten Entitäten wie Ökosystemen oder Tierarten nachzuweisen. Andererseits läuft man dabei Gefahr, Komponenten der Natur menschliche Eigenschaften zuzuschreiben (sogenannter Anthropomorphismus). Es braucht eine andere Argumentation, um den moralischen Status von Ökosystemen zu begründen. J. Baird Callicott (1987) betont, dass holistische Ganzheiten, wie eben zum Beispiel Ökosysteme, um ihrer selbst willen berücksichtigt werden müssen. Er nimmt die Position ein, dass es keine objektiven Werte gibt, sondern alle Werte subjektiver Art sind (Deplazes Zemp, 2021a, S. 20). Das heisst: Die Menschen können allen Entitäten um ihrer selbst willen einen intrinsischen Wert zuschreiben. Demgegenüber spricht Holmes Rolston III (1994) von systemischen Werten. Ökosysteme würden von den Lebewesen instrumentell geschätzt und für diese einen Wert generieren. Dieser systemische Wert geht «über die Summe der Werte der Einzelelemente des Systems hinaus» (Deplazes Zemp, 2021a,
S. 24). Somit schreibt er den Ganzheiten, zum Beispiel Ökosystemen, einen höheren moralischen Wert zu als jenen der Einzelkomponenten. Damit wird rasch erkennbar, dass diese ökozentrischen Positionen die hier diskutierte These stützen, insbesondere die normative Begründung, warum Ökosysteme geschützt werden müssen: Weil sie einen (vielleicht auch nur zugeschriebenen) intrinsischen (Callicott) oder sogar einen systemischen Wert (Rolston) besitzen.
Diskussion im Kontext der Gegenstandsbestimmung
Nun sind die verschiedenen umweltethischen Positionen dargelegt. Zuerst möchte ich festhalten, dass der deontische Teil der These («Ökosysteme müssen in ihrer Integrität geschützt werden») aus allen vier Perspektiven heraus gestützt werden kann. Wir können eine Pflicht zum Schutz der Unversehrtheit von Ökosystemen begründen, indem wir auf ihren instrumentellen Wert für das Wohlergehen von Menschen sowie von leidensfähigen bis hin zu allen Lebewesen verweisen. Wir können aber auch ökozentrisch argumentieren, dass dieser Schutz unabhängig vom instrumentellen Wert geboten ist, aufgrund des intrinsischen oder systemischen Werts der Ökosysteme. Hier zeigt sich der Konflikt, der in dieser These vorliegt, nämlich die normative Begründung der Schutzpflicht. Die zentrale Frage ist also, ob Ökosysteme für sich genommen wertvoll sind oder «nur» instrumentell wertvoll im Hinblick auf das Wohlergehen der lebenden Organismen im Ökosystem.
Dazu möchte ich nun auf die in der Einleitung formulierte Definition zurückkommen, nach welcher Ökosysteme «eine Einheit von interagierenden Organismen mit Elementen ihrer Umwelt» sind. Das Ökosystem verdankt seine ontologische Existenz dem Umstand, dass Organismen mit ihrer Umwelt interagieren. Es scheint mir daher problematisch, einem solchen Konzept einen intrinsischen Wert zuzuschreiben, der unabhängig von den Organismen vorliegen soll. Denn ohne diese würden wir gar nicht von Ökosystemen sprechen. Daher finde ich, dass der Wert von Ökosystemen nur dann gegeben sein kann, wenn sie wertvoll für die Organismen sind. Ihr Wert ist somit instrumenteller Natur. Deshalb widerspreche ich der These und formuliere sie wie folgt um: «Ökosysteme müssen in ihrer Integrität geschützt werden, weil sie das Wohlergehen der in ihnen lebenden Organismen sichern und befördern.»
Fazit & Versöhnung
In Zusammenhang mit dieser These überzeugen mich die Argumentationen der anthropo-, patho- und biozentrischen Positionen mehr als die ökozentrischen. Ökosysteme sind keine «moral patients». Die Schutzpflicht ergibt sich aus instrumentellen Überlegungen zugunsten der Interessen und des Wohls der «moral patients» in den Ökosystemen, den lebenden Organismen.
Zum Schluss möchte ich noch eine Versöhnung herbeiführen. Die vorhergehenden Kapitel haben gezeigt, dass sich darüber streiten lässt, warum Ökosysteme wertvoll sind. Es wäre wohl zielführender, wenn man die Diskussion von der Wertfrage löst. In diesem Zusammenhang möchte ich den Ökofeminismus und die ökologische Tugendethik erwähnen. Der Ökofeminismus betont die Beziehungen, welche zwischen den Menschen und ihrer Umwelt bestehen (Deplazes Zemp, 2021b, S. 86). Die Vertreter nehmen einen Perspektivwechsel vor (weg von der «Logik der Beherrschung» (Deplazes Zemp, 2021b, S. 85)), ähnlich wie es auch die ökologische Tugendethik tut. Diese stellt die Haltung und Einstellung gegenüber der Natur ins Zentrum, und dabei Tugenden wie Rücksicht, Sensibilität oder Wohlwollen (Deplazes Zemp, 2021b, S. 80). Ökosysteme gilt es zu schützen, weil wir in vielfältigen Beziehungen zur Natur stehen, und weil wir als tugendhafte Menschen gegenüber unserer Umwelt wohlwollend und rücksichtsvoll handeln sollten. Der Mensch sollte sich nicht als Beherrscher der Natur verstehen, sondern als Teil eines grösseren Ganzen, für das er aufgrund seiner Fähigkeiten und Eigenschaften eine besondere Verantwortung trägt.
Literaturverzeichnis
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